Gendern – Was soll das eigentlich
„Ich gendere nicht, das macht die deutsche Sprache kaputt“. Diese Aussage traf neulich der Diversity- und Gleichstellungsbeauftragte eines namhaften deutschen Beratungsunternehmens. Seine Gründe: divers. Wenigstens das. Gleiches verkündete Meike Dülffer, die Textchefin der Zeit online, 2018 in ihrem Blog. Und sie sind nicht die einzigen. Bei dieser Aussage werden jetzt viele nicken. Schon allein, weil einem der Anglizismus auf die Nerven geht, oder etwa nicht? Gendern! Was bedeutet das überhaupt? Und steckt am Ende womöglich doch mehr dahinter, als bloß ein kleines Sternchen und die persönliche Meinung einzelner?
Gendern im Alltag
Grundsätzlich steht der Begriff Gendern für die Berücksichtigung des Geschlechter-Aspekts in Bezug auf eine Grundgesamtheit von Personen. Sie wissen schon: „Sehr verehrte Mitabeiter*innen, liebe Kolleg*innen etc.“ Aber jetzt mal unter uns: Wie das aussieht! Das „Gegendere“ verhunzt einem jeden Text. Und dann dieses verbale Gestolpere in der Aussprache. Deutsch, die Sprache der Dichter und Denker, scheint ernsthaft in Gefahr.
Dichte Denker
Da bleiben wir doch lieber bei „Liebe Kollegen, schön dass Ihr alle das seid...“ Die weiblichen und diversen Kollegen, überwiegend Frauen, sollen sich einfach dazu denken, dass sie irgendwie unter die männliche Anrede fallen. Auf Führungsebene sind es ja sowieso nicht so viele Frauen. Die wissen schon, wer und was gemeint ist.
Das klingt dann doch alles ziemlich nach Stammtischparole. Als Mutter von zwei erwachsenen Töchtern, die ihr Berufsleben noch vor sich haben, würde die Autorin das Thema Gendern gerne etwas differenzierter betrachten.
Das war doch schon immer so
Die Frage, die sich beim Gendern stellt, lautet: Wie fühlt man sich als Frau, wenn nur die männlichen Kollegen angesprochen werden. Kann das ein Mann überhaupt beurteilen? Wohl eher nicht. Sollten Frauen darüber hinwegsehen oder es wie gewohnt weglächeln, weil es schon immer so war? Ist es egal, wenn Ärzte, Ingenieure, Manager, Direktoren und Geschäftsführer mit einem huldvollen „m/w/d“ in Stellenausschreibungen gesucht werden? Oder macht das etwas mit uns Frauen? Trauen wir uns womöglich weniger, weil nur das männliche Geschlecht angesprochen ist? Studien bestätigen dies. Wie viele Männer fühlten sich wohl direkt und unmittelbar angesprochen, wenn Stellenanzeigen in Zukunft nur noch auf Ärztinnen, Managerinnen, Ingenieurinnen, Geschäftsführerinnen und Direktorinnen (w/d/m) ausgerichtet wären? Würde das die Welt nicht auf den Kopf stellen? Doch, genau das würde es. Und genau deshalb ist Gendern so elementar. Zeit, die Welt auf den Kopf zu stellen.
Gendern unterstützt die Gleichberechtigung
Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen mittlerweile, dass es sehr wohl etwas mit unserer Gesellschaft anstellt, wenn wir in unserer Sprache diverse Gruppen von Menschen allein auf das männliche Geschlecht reduzieren. Es verhärtet, wovon die meisten – auf jeden Fall mal 50 % der Weltbevölkerung – allmählich die Nase voll haben: die Benachteiligung von Frauen in vielen Bereichen des Lebens.
Schluss mit dem Gender Gap
So verdienten Frauen laut Statistischem Bundesamt 2020 immer noch durchschnittlich 18 % weniger je Stunde als Männer. Kein Scherz! Die Unterschiede fielen in Westdeutschland (und Berlin) mit 20 % deutlich höher aus als im Osten (6 %). Aber warum ist das so? Der Gender Gap wird zu einem Großteil den immer noch vorherrschenden klassischen Geschlechterrollen zugeschrieben. Durch die vorgefertigten Geschlechterstereotypen, die in der Gesellschaft vorherrschen, entsteht eine Diskrepanz zwischen der Rolle einer Frau und der eines Mannes, da diese Rollen mit unterschiedlichen Attributen assoziiert werden.
Frauen sind fürsorglich. Männer stark. Ist das so?
So werden Frauen Eigenschaften wie hilfsbereit, freundlich, abhängig, liebevoll, sanft, sympathisch, sensibel und fürsorglich zugeschrieben. Perfekt für die Familie und natürlich all die unentgeltlichen Care-Jobs, die damit verbunden sind. Männer hingegen werden mit Attributen wie ehrgeizig, energetisch, dominant, selbstgenügsam, unabhängig, aggressiv und selbstbewusst bedacht. Ganz klar: Ideal für Führungspositionen und ein entsprechend höheres Einkommen.
Wir haben es hier mit ebenso hartnäckigen wie überkommenen Denkmustern und Zuschreibungen zu tun, die geprägt durch Kultur und Gesellschaft wie Zement in den Köpfen der Menschen haften ¬– und nur sehr langsam eine Veränderung erfahren. Klar ist auch, dass dies Männer weitaus weniger stört als Frauen. Wenn wir nun die Veränderung in Richtung „Gender Equality“ wünschen und forcieren wollen, dann sollten wir das weibliche Geschlecht mit den gleichen starken, unabhängigen, dominanten und für Führungsaufgaben prädestinierten Rollenbildern besetzen, wie das männliche Geschlecht!
Wen betrifft Gendern überhaupt?
Nun hat sich in Deutschland, vermutlich auf der ganzen Welt, ganz sicher aber in den Medien sich seit Längerem eine Unart breit gemacht: Dass diejenigen, die es nicht betrifft ebenso wie diejenigen die keine Ahnung haben – am besten in Personalunion –, den Mund am weitesten aufreißen. So geschehen beispielsweise im Expertentalk „In letzter Instanz“, als die „Alltagsrassismus“-Spezialisten Thomas Gottschalk, Nadine Kunze, Jürgen Milski mit Micky Beisenherz und Moderator Stefan Hallaschka über Political Correctness diskutierten und darüber, wo denn das Problem sei beim „Zigeunerschnitzel“.
Schließlich kenne und schätze man dies aus Kindheitstagen und das wäre ja noch nie rassistisch oder gar abwertend gewesen. Das mag schon sein: Doch wer hat dies zu bewerten? Ein paar nordisch blonde Promis – oder nicht doch vielleicht jene Sinti und Roma, die unter der geringschätzigen Verallgemeinerung „Zigeuner“ leiden. Gleiches gilt übrigens für „Mohrenköpfe“ samt „Negerkuss“, „Indianer“, „Eskimos“ – und nicht zuletzt auch für das Gendern. Letzteres bedeutet schlicht, dass dem Männlichen endlich das Weibliche gleichberechtigt an die Seite gestellt werden muss. Und das geht vor allem die an, die es betrifft: und das sind überwiegend die Frauen.
Sprichst Du vom Weibe, vergiss das Gendern nicht!
Sollte Herr Gottschalk also nicht neuerdings der Gemeinschaft der Roma oder Sinti angehören und sich als Betroffener herausstellen, dann heißt es für ihn in Zukunft schlicht: öfter mal die Klappe halten und dafür zuhören. Auch zum Thema Gendern erspare er uns bitte seine Meinung! Nur schon mal vorsorglich erwähnt. Gleiches gilt für die Herren der Schöpfung, die sich aus „diversen“ Gründen etwas harttun mit dem „Gegendere“. Frauen wie Meike Düllfer von der Zeit online hingegen sollten vielleicht noch einmal gründlich darüber nachdenken, bevor sie sich äußern ... müssen.
Denn für das weibliche Geschlecht geht es um nichts weniger als um alles. Nach 2000 Jahren Diskriminierung ist es nun an der Zeit in allen Bereichen für Gleichberechtigung zu sorgen. Dazu brauchen wir – Alice Schwarzer sei gedankt – heute nicht mehr unsere BHs öffentlich zu verbrennen. Obwohl wir es natürlich könnten. Aber wir sollten darauf bestehen, dass in Unternehmen, in denen wir arbeiten und erfolgreich sind, gegendert wird.
Die Zeit ist reif – und sie sollte ausreichen – für ein „Liebe Kolleginnen und Kollegen, ...“. Das geht ohne Gendersternchen und schadet obendrein der deutschen Sprache keineswegs. Und falls doch mal der eine oder die andere über das Gendersternchen stolpert, so solle es ihm und ihr als wertvoller Impuls dienen, darüber nachzudenken, was von dem kleinen Stolperer alles abhängt.
Sprache ist etwas Lebendiges, das sich dem Zeitgeist anpasst.
Sprache verändert sich. Sie stellt etwas höchst Lebendiges dar, das sich mit dem Zeitgeist wandelt. Friedrich Nitzsche würde sich heutzutage mit einer Äußerung wie „Gehst Du zum Weibe, vergiss die Peitsche nicht“ wohl einen ordentlichen Shitstorm einfangen. Zum Glück gab es den Begriff „Shitstorm“ zu jener Zeit noch nicht. Ein weiterer Beweis für die Lebendigkeit und Anpassungsfähigkeit der Sprache. Für alle jene, die es lieber mit Nietzsche halten und denen das hier Geschriebene zu neumodisch klingt, deshalb hier noch einmal im guten alten Deutsch:
Sprichst Du vom Weibe, vergiss das Gendern nicht!
Quellen: Bilder: Depositphotos/londondeposit allaserebrina, Text: Daniela Wiessner
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