Birth Strike – Kinderlos in Zeiten des Klimawandels
Mein Mann und ich sind jung, gesund und führen eine stabile Beziehung. Und: wir lieben Kinder. Wir gehören zu den Leuten, die ziemlich aufdringlich mit dem süßen Baby am Nebentisch schäkern und vermeintlich verstohlene Blicke in die Kinderwägen anderer Leute werfen, um das goldige Neugeborene zu bewundern. Natürlich wird in unserem Umfeld die Frage immer lauter „Wann ist es denn bei euch endlich soweit?“.
Lange Zeit haben wir darauf nur ausweichende Antworten gegeben. Die Wahrheit ist: Mein Mann und ich haben es für kurze Zeit versucht – und ich bin froh, dass es nicht geklappt hat. Denn ich liege nachts wach, starre an die Zimmerdecke, lausche den unzähligen Flugzeugen, die auch nachts beharrlich über unser Haus hinwegfliegen, und frage mich: „Kann ich es verantworten, ein Kind in diese Welt zu setzen?“
Die Klimakatastrophe steht vor der Tür
Der wissenschaftliche Konsens ist eindeutig: Wir befinden uns an der Schwelle eines ökologischen Desasters, das unseren Planeten innerhalb der nächsten Generationen für uns Menschen unbewohnbar machen könnte. Und ja, wir haben zahlreiche Möglichkeiten, um die vollkommene Katastrophe abzuwehren und aktuell hat die Klimaschutz-Bewegung ein bisher beispielloses Momentum losgetreten. Weltweit engagieren sich mehr Menschen als jemals zuvor und kämpfen für unsere Zukunft. Das gibt Hoffnung. Und trotzdem bleiben Fragen: Ist das genug? Wird das ausreichen? Oder ist es zu wenig und zu spät? Wir wissen es nicht. Wir können noch lange keine Entwarnung geben und sind selbst im Best-Case-Szenario noch viele Jahrzehnte davon entfernt, aufatmen zu können. Bis dahin ist mein persönliches Zeitfenster, um Nachwuchs zu bekommen, definitiv vorbei. Mein Mann und ich müssen unsere Entscheidung unter der größten Unsicherheit treffen, die man sich vorstellen kann. Und wir sind ratlos.
Birth Strikers – das Persönliche wird politisch
Ähnlich wie uns ging es auch einer Gruppe von Frauen in Großbritannien, die daraufhin öffentlich den „Birth Strike“ ausgerufen haben. Es ist wichtig zu betonen: Die Gruppe möchte in keiner Weise moralisch darüber urteilen oder andere Menschen davon abhalten, Kinder zu bekommen. Und genau das macht es so schwer, über dieses Thema zu sprechen. Auch wenn mehr als ein Drittel aller amerikanischen Millennials sagt, dass der Klimawandel einen großen Einfluss auf die Familienplanung haben sollte, sprechen wir nicht über dieses Thema. Wie redet man auch mit Freunden und Familie über diese Ängste, wenn sie bei deren Entscheidung keine Rolle gespielt haben? Wie vermeidet man, dass in dieser Unterhaltung unweigerlich mitschwingt: „Wie konntest du nur?“ Denn ich bin auch froh, dass sie konnten. Jedes Mal, wenn ich in die strahlenden Augen eines Kindes blicke, bin ich froh, dass sich jemand entschieden hat, an das Beste in der Menschheit zu glauben und dieses Wunder auf die Welt zu bringen. Doch bei jedem Gespräch überkommt mich auch die Angst, dort die gleiche Panik loszutreten, die ich nachts fühle, wenn ich mit meiner Hand über meinen leeren Bauch streiche. Und das wünsche ich niemandem. Deswegen schweige ich.
Kinderkriegen trotz globaler Erwärmung: Pro & Contra
Viele komplexe, zum Teil miteinander verknüpfte Faktoren spielen in unsere Überlegungen mit hinein. Zum einen gibt es zahlreiche Studien darüber, welchen vergleichsweise hohen Einfluss die Lebensweise in Industrienationen auf das Klima hat. Laut einer Studie der Lund University in Schweden spart keine Lebensentscheidung so viel CO2 ein, wie ein Kind weniger zu haben. Dieser Wert liegt weit über einem komplett autofreien Leben, dem Verzicht auf Flugreisen und einer pflanzenbasierten Ernährung. Wäre eine kinderlose Familie also nicht die klimafreundlichste Alternative? Die Ressourcen unseres Planeten sind ohnehin bereits überbeansprucht. Ist es gerecht, dass mein Kind diese Ressourcen einem anderen wegnimmt? Ein Kind, dessen Mutter vielleicht keine Wahl hatte? Ein Kind, das ohnehin schon unter viel schwierigeren Verhältnissen aufwächst?
Die Fragen des Klimawandels beschäftigen immer mehr junge Menschen.
Aber ich weiß natürlich auch, dass die Privatisierung dieser Fragen hinfällig und sinnlos ist. Meine Entscheidung macht im Großen und Ganzen keinen Unterschied. Auf ein Kind mehr oder weniger kommt es nicht an – oder? Was wäre passiert, wenn Greta Thunbergs Eltern keine Kinder hätten bekommen wollen? Das ist die andere Seite. Diese junge Frau hat eine Bewegung losgetreten, die in den Köpfen vieler Menschen mehr verändert hat als die jahrelangen Bemühungen zahlloser Aktivisten und Wissenschaftler. Doch dass Kinder auf die Straße gehen müssen, um für ihre Zukunft zu kämpfen, ist für mich einfach falsch. Kein Kind sollte mit einer solchen Last auf die Welt kommen, kein Kind sollte für sein Überleben und für seine Zukunft kämpfen müssen. Mir ist aber andererseits auch bewusst, dass das eine sehr privilegierte Ansicht ist, weil ich vollkommen frei darüber entscheiden kann, ob ich ein Kind bekommen möchte. Andere Frauen haben diese Möglichkeit nicht und der klimabedingte Überlebenskampf ist an vielen Orten der Welt heute bereits traurige Realität für zahlreiche Kinder und ihre Familien.
Zukunft zwischen Angst und Hoffnung
Nicht zuletzt frage ich mich vor allem: Auf was für eine Welt müsste ich mein Kind vorbereiten? Sie wird definitiv bedeutend schwieriger sein als die, in der ich aufwachsen durfte. Selbst wenn wir endlich die notwendigen und längst überfälligen Maßnahmen ergreifen, um der fortschreitenden Erderwärmung den Kampf anzusagen, wird sich diese Welt radikal ändern. Der für die gesamte Menschheitsgeschichte geltende Wunsch „Ich will, dass meine Kinder es besser haben als ich“ wird aller Wahrscheinlichkeit nach für meine Generation nicht eintreffen. Unsere Kinder werden mit mehr Naturkatastrophen umgehen müssen, die Grundversorgung mit Wasser und Nahrung wird mehr Herausforderungen beinhalten. Natürlich habe ich die große Hoffnung, dass wir die richtigen Lösungen finden und dass das Leben weitergeht – wenn auch radikal anders, so doch immer noch lebenswert. Und ich bin froh, dass in so vielen Menschen diese Hoffnung überwiegt und sie sich deswegen den Wunsch nach einem Kind erfüllen. Aber vielleicht gebäre ich mein Kind auch wissentlich in ein Leben, das von Not, Krieg und Angst geprägt ist. Und diese Vorstellung ist für mich vollkommen unerträglich.
Die Schuldfrage
Letztendlich bin ich aber einfach wütend. Ich bin wütend auf all die Konzerne, Politiker und Akteure, auf all die Entscheidungsträger, die das heutige destruktive System aufgebaut und unterstützt haben, die unseren Planeten über Jahrzehnte hinweg wider besseres Wissen immer weiter zerstört haben. Ich bin wütend, dass ich diese zutiefst persönliche Entscheidung überhaupt vor diesem Hintergrund treffen muss. Auch wenn sie keinen großen Einfluss auf die Welt hat – für mich bedeutet sie vielleicht trotzdem die Welt. Ja, ich wünsche mir ein Kind, das ich mehr als alles andere lieben kann – und das ich vielleicht genau deswegen nicht bekomme. Noch haben mein Mann und ich keine Entscheidung getroffen. Möglicherweise werden wir irgendwann versuchen, ein Kind aus einer Krisenregion zu adoptieren, in der Hoffnung, dass wir ihr oder ihm ein Leben in Europa gestalten können, das zumindest noch ein wenig beschützter ist als die Alternative. Möglicherweise werden wir unsere Meinung in ein paar Jahren ändern, weil wir einen echten Veränderungswillen bei den Entscheidungsträgern der Welt sehen. Möglicherweise bekommen wir irgendwann trotz allem ein Kind – einfach, weil es unser Urinstinkt ist, das Schlimmste zu befürchten und trotzdem auf das Beste zu hoffen. Weiter lesen...
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Quelle:, Bild: Depositphotos: DenKostiukBO,Luoxi,AllaSerebrina, choreograph, Text: red