Dr. med. Erich Freisleben Medizin muss wieder nachhaltig und ganzheitlich werden
Unser Gesundheitssystem hatte den Ruf, eines der besten zu sein. Historisch galt Deutschland einst als Apotheke der Welt und als Brutstätte für bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnisse, verbunden mit Namen wie Rudolf Virchow und Robert Koch. In den Nachkriegsjahrzehnten glänzte unser Gesundheitswesen mit den Vorzügen der freien Arztwahl, der ärztliche Behandlungsfreiheit, einer leichten Erreichbarkeit von Ärzten und Krankenhäusern und einer guten Fürsorge auf hohem Niveau. Kostenlose Medikamente und Therapien waren für die Versicherten selbstverständlich.
Medizin ohne Moral
Die letzten fünfundzwanzig Jahre war die Zeit der „Reformen“. Diese versprachen jeweils Qualität und Effektivität. Real nahmen sie jedoch unserer Gesundheitsversorgung mit jedem Schritt mehr von seinem ehemaligen Glanz. Die vorläufige Bilanz: Hausärztemangel, späte Facharzttermine, Pflegenotstand, überfüllte Ambulanzen, Lieferengpässe der Apotheken, Hektik in Praxen und Krankenhäusern, Zuzahlungen zu fast allen Leistungen.
Alle gesetzlich Versicherten leisten doch aber weiterhin ein Sechstel ihrer Einkünfte als Beitrag für eine gute Versorgung. Technisierung und Digitalisierung haben doch so vieles vereinfacht. Der medizinische Fortschritt sollte und uns doch gesünder gemacht haben. Wie kann man dieses alles auf einen Nenner bringen? Wohin wird uns diese Entwicklung führen?
Die Themen zu Gesundheit und Krankheit sind ungeheuer vielfältig. Die gesundheitspolitischen Fragestellungen und die Verflechtungen im System sind äußerst komplex. Mein Buch „Medizin ohne Moral“ schrieb ich als Hausarzt, der all die Veränderungen seit über dreißig Jahren in seiner Praxis verfolgte und die Zusammenhänge für jeden verständlich machen will. Denn die Menschen sind mündiger geworden, auch als Patienten, und sie streben zu Recht an, über ihre Gesundheit selbst mitzubestimmen.
Abschied von Hippokrates
Im ersten Teil des Buchs beschreibe ich die Etappen des Wandels: So sehr der Aufbruch in die Spezialisierung, die der technologische Fortschritt mit sich brachte, in die einzelnen Fachbereiche Gewinne brachte, so sehr war er insgesamt auch von Verlust begleitet. Das Zusammenwirken von Spezialwissen einerseits und dem tiefen Einblick in die Gesamtzusammenhänge menschlicher Krankheiten andererseits, kam aus dem Lot. Die zunehmende Weichenstellung in Richtung der Technik und der Pharmakologie ließ den Blick auf die Verbindung zwischen Körper, Seele, geistigen Einstellungen, sozialen Bedingungen und lebensgeschichtlichen Einflüssen verblassen.
Dabei verschoben sich auch die Gewichte. Um die Spezialisierungen gruppierten sich Industrien, welche der Medizin geradezu ein Feuerwerk von technologisch- pharmakologischen Innovationen andienten. Einige Produkte waren wertvoll, ein sehr großer Teil war jedoch überteuert und wies nur einen bescheidenen oder gar keinem Nutzen auf. Fortschrittseuphorie und Werbeversprechen ließen Spreu von Weizen nur noch schwer trennen. In den gesundheitspolitischen Entscheidungsgremien gewannen zunehmend diejenigen Einfluss, die selbst von diesem teuren Weg profitierten. Die Ökonomisierung ergriff die Medizin.
Es fühlte sich modern an und es war für viele lukrativ, in diesem Innovations- Karussell mitzuspielen. Die immensen Kostensteigerungen führten zu einem härter werdenden Verteilungskampf zwischen den unterschiedlichen Berufssparten. Die Entlohnung derer, die mit persönlichem Einsatz die Basisversorgung trugen, wurde immer nachteiliger. Auch Ihre Arbeitsbedingungen verschlechterten sich durch Kontrollmechanismen, die eine überbordende Bürokratie nach sich zogen. Der allgegenwärtige Zeitmangel nahm den Helfern zudem noch viel von der befriedigendsten Seite ihrer Tätigkeiten, dem zwischenmenschlichen Kontakt. Innerhalb des Medizinbetriebs verschob sich nicht zuletzt auch die Wertschätzung in Richtung des Spezialistentums. Kurzum, das eigentliche Helfen wurde unattraktiv. Das spürten auch die Patienten, die dazu noch immer mehr zur Kasse gebeten wurden.
Um dieses ungute Spiel der Öffentlichkeit plausibel zu machen, wurden Geschichte erfunden: Das Gesundheitssystem sei eine Black Box, in der das Geld versickere. Vor allem die Qualität müsse verbessert werden. Es werde viel zu viel Geld für eine rückständige und subjektive Medizin verschwendet. Es brauche mehr wissenschaftliche Objektivität. Diese müsse schärfer kontrolliert werden.
Aus diesem Blickwinkel heraus ließ sich nicht nur eine neue Kultur des Kontrollierens rechtfertigen. Vielmehr verloren auch die persönlichen Aspekte in der Medizin und der Arzt-Patientenbeziehung ihre Bedeutung. Denn die Spezialisierung stärkte den Einfluss der akademischen Sicht, deren finanzielle Basis eng mit der Industrie und innovativen Pharmakologie verbunden ist. Der kranke Mensch wurde immer mehr Objekt. Der Arzt galt zunehmend als austauschbar. Nicht mehr seine Hippokratische Grundhaltung war das Maß, sondern sein Spezialwissen.
Medizinsystem und Patienten befinden sich nun in zwei unterschiedlichen Welten. Im hochtourigen Zusammenspiel von Universitätsmedizin und technisch-pharmakologischer Industrie stößt sich niemand daran, wenn abenteuerliche Summen für neue Produkte verlangt werden. Spitzenreiter ist derzeit die Behandlung eines Menschen für 2,1 Millionen Euro. Die Kehrseite spürt die das Heer der Patenten. Überforderte Ärzte jagen sie durch die diagnostische Mühle. Gehetzte Pfleger verlieren ihre Motivation. Die Patienten werden zu Bittstellern.
Wo sind die Versichertenbeiträge? Das Geld ist ja nicht weg. Schauen wir doch auf den Börsenwert der Biotechnologie und High-Tech Unternehmen. Sehen wir uns die Hochglanzwerbung in Fachzeitschriften, blicken wir auf werbegeschmückte Messen und mondäne Fortbildungsorten. Es gibt durchaus Bereiche des Überflusses in der Medizin. Sie ist rund um die Spezialversorgung zu finden.
Es geht jedoch nicht um ein Entweder -Oder. Das medizinische Versorgungssystem selbst arbeitet ähnlich dem menschlichen Körper. Jeder Bereich hat wie im harmonischen Zusammenspiel der Organe seine Funktion und sein Maß. Wenn ein Part die anderen auf deren Kosten überwuchert, folgt Krankheit. Im Menschen, wie im Medizinwesen. Der erste Teil meines Buchs mit dem Untertitel „Abschied von Hippokrates“ will weniger anklagen, als vielmehr die Systemschwächen beschreiben. Vor der Diagnose steht das Erkennen der Zusammenhänge. Denn eine Therapie muss die Fehlentwicklungen korrigieren, wenn sie nachhaltig wirken soll.
Die verstandene Krankheit
Der zweite Teil meines Buchs setzt sich mit dem Wesen von Krankheiten auseinander. Anhand vieler Fallberichte soll erkennbar werden, was gesund hält und was krank macht. Es geht weniger um die biochemischen Funktionsstörungen, sondern mehr darum, unter welchen Bedingungen sie entstehen. Diesem Themenkomplex muss man sich behutsam nähern, denn es gibt keine einfachen Erklärungen. Er ist vor allem eine Domäne der Erfahrung. Wenn Ärzte mehrere Zehntausend Krankheitsverläufe in ihrem Arbeitsleben mit einem wachen Blick für ganzheitliche Zusammenhänge beobachtet haben, schälen sich Erkenntnisse heraus, die unter Laborbedingungen nicht zu gewinnen sind. Denn der untrennbare Zusammenhang zwischen den objektivierbaren Vorgängen im Körperlichen und den sehr persönlichen, subjektiven Aspekten ist es ja, was den Menschen von einer Maschine unterscheidet. Das Subjektive besser zu verstehen, kann man also durchaus lernen und damit einen wesentlichen Einfluss auf die gesundheitliche Verfassung nehmen. Damit ist der Arzt nicht nur jemand, der technische Kniffe zur Beseitigung von Symptomen kennt, sondern auch ein kundiger Begleiter durch die kleinen und großen Krisen des Lebens, welche uns Menschen krank machen können.
Medizin im kranken Zeitalter
Im dritten Teil des Buchs reflektiere ich die geistige Haltung unseres Zeitalters. In den gut 150 Jahren seit der industriellen Revolution haben wir wie in einem Sturm eine wissenschaftlich-technische Entwicklung durchlaufen. Das vormalige Weltbild, in dem das Leben in den Zyklen des Werdens und Vergehens eingebettet war und eine Sinnhaftigkeit des Lebens selbstverständlich war, verblasste. An die Stelle des Glaubens an die Allmacht einer höheren Instanz trat der Glaube an die Allmacht des Wissens und Könnens. Ein lineares Streben nach unentwegter Optimierung. Vorbild dafür schien die Evolutionstheorie zu bieten, der zufolge sich die Natur quasi automatisch durch Variation und Selektion höher entwickele. Dieses Denken übertrug sich auf das Sozialleben und das Menschenbild. Auch der nationalsozialistische Rassenwahn berief sich darauf, ein Naturgesetz zur Optimierung der menschlichen biologischen Qualität erfüllen zu wollen und wies damit erstmals auf die Gefahr einer geistigen Verirrung im modernen Weltbild hin.
Der Schreck über den folgenreichen Verlust an Ethik und Moral führte zwar nach dem Krieg zu Sicherungsinstrumenten wie der UNO und WHO, zur Erklärung der allgemeinen Menschrechte und im westlichen Deutschland zum Grundgesetz. Die Optimierungsideologie lebte sich nun in Marktwirtschaft und Technologie aus. Die Fixierung auf das Biologische im Menschen existierte dabei unvermindert weiter. Erst die Jugendbewegungen in Amerika und Europa brachen diese starren Konzepte etwas auf. Sie legten die Finger auf die Wunden der Neuzeit, den Verlust von Moral im globalen Wettbewerb, die Verantwortungslosigkeit im Umgang mit der Natur und den Ressourcen der Erde. Themen wie der Vietnamkrieg, die Atomkraft und die Bio-Bewegung markierten diese Reflektion. Auch in der Medizin öffnete sich die Sicht in Richtung ganzheitlicher Zusammenhänge. Sanftere Therapiemethoden und Naturheilverfahren wurden in der Bevölkerung immer beliebter. Geradezu unübersehbar wurden die Folgen eines schrankenlosen technologischen Wachstums schließlich durch Probleme des Klimawandels und des Artenverlusts.
Alternative Medizin wurde in der Bevölkerung immer beliebter
Wir erleben nun also nun ganz unmittelbar und direkt, dass der Verlust des ganzheitlichen Weltbildes zugunsten eines linearen Optimierungsdenkens die Menschheit an den Rand seiner Existenz bringt. Nichts wäre notwendiger, als wieder im Sinne der großen Zusammenhänge zu handeln und zu steuern. Sich wieder rückbesinnen auf das Potential des Menschen, das neben seine intellektuellen und technischen Fähigkeiten in seinem Subjektiven lebt. Zu fördern die Quellen des Mitgefühls, der Herzenswärme, des Moralempfinden und der sozialen Kontaktfreudigkeit.
Wenn schon das Konzept, die Welt allein mit Wissenschaft und Technologie verbessern zu wollen, versagt hat, kann uns keinesfalls eine Künstliche Intelligenz retten. Die Moderne muss zur Nachhaltigkeit und Ganzheitlichkeit zurückfinden. Eine Intellektualität und ein Fortschrittsstreben, dass nicht eingebunden ist in die subjektiven Qualitäten der Menschen, führt in die Kälte und Zerstörung. Wir müssen die immaterielle Seite des Menschen als sein stärkstes Potential wieder neu schätzen lernen. Es muss jedoch gepflegt werden, in der Pädagogik wie in der Kultur, damit es sich segensreich entfaltet.
Die Brüder Humboldt wussten noch: Vervollkommnung und Harmonie sind die offensichtlichen Triebkräfte einer Jahrmillionen währenden Evolution und nicht Optimierung durch Konkurrenz. Dies prägte ihre Verbindung zwischen Naturforschung und Bildungsideal. Die Interpretation der Evolution im Sinne der frühkapitalistischen Konkurrenz wurde das große Missverständnis unserer Zeit. So, wie die Medizin ohne die Berücksichtigung des ganzen Menschen in einen unbezahlbaren Reparaturbetrieb endet, so wird die globale Entwicklung hoffnungslos prekär, wenn sie nicht die Gesamtzusammenhänge beachtet.
Keine Theorie, sondern das alltägliche Erleben in meiner beruflichen Tätigkeit hat mich zu dieser Betrachtung geführt. Mein Buch möchte Sie auf diese Wanderung mitnehmen.
Quellen: Bilder: Depositphotos/Wavebreakmedia, zurijeta, alexraths, pathastings, Text: Dr.Med. Erich Freisleben
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