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Lauterbrunnen Schweiz
Auswandern in die Schweiz

Leben und arbeiten in der Schweiz: Klischees unter der Lupe

Vielen Deutschen gilt die Schweiz als „Deutschland mit lustigem Akzent“. Angesichts solcher Klischees ist es nicht verwunderlich, dass viele sich nach einer Auswanderung dorthin urplötzlich mit der Realität konfrontiert sehen. Wir gehen den bedeutendsten Auswanderer-Klischees über die Schweiz auf den Grund.

Denken Sie manchmal ans Auswandern und wenn ja, wohin? Falls Sie dabei an eine der ältesten Demokratien der Welt denken, die sich überdies eine sehr lange Grenze mit Deutschland teilt, so sind Sie tatsächlich in bester Gesellschaft: Seit vielen Jahren schon ist die Schweiz für deutsche Staatsangehörige das Auswanderungsland Nummer Eins. 2021 hatten fast 310.000 der 8,82 Millionen Einwohner in der Schweiz einen deutschen Pass. Weiter müssen die eingebürgerten ehemaligen Deutschen betrachtet werden. Insgesamt stellen Menschen aus „dem großen Kanton“, wie Deutschland in der Schweiz bisweilen genannt wird, die zweitstärkste migrierte Bevölkerungsgruppe dar – nach Italienern.

Zweifelsohne liegt dies daran, dass viele von uns in der Schweiz nur ein etwas anderes Deutschland sehen, also ein Land, das für deutsche Auswanderer deutlich weniger Hürden bietet als, beispielsweise, Spanien oder Norwegen. Allerdings täuschen sich dabei viele und ergehen sich in haltlosen Klischees. Auf den folgenden Zeilen überprüfen wir deshalb typische solcher Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt.

1. Um in die Schweiz zu ziehen, gelten für Deutsche enge Einschränkungen

Ganz gleich ob nur mit bestimmter Vorbildung oder nur eine gewisse Anzahl von Personen pro Jahr: Viele glauben, die Schweiz würde sich gegen Einwanderer nach Norden etwas abschotten. Stimmt allerdings nicht.

Zwar ist die Schweiz kein EU-Mitglied, weshalb die diesbezüglichen Modalitäten zur Personenfreizügigkeit nicht greifen. Dafür allerdings existiert bereits seit 2002 ein weitgehend gleiches Abkommen zwischen der EU und der Schweiz. Heißt, die allermeisten EU-Bürger können ebenso problemlos in die Schweiz ziehen und dort arbeiten, wie es innerhalb der Europäischen Union der Fall ist.

2. In der Schweiz darf man nur zu bestimmten Terminen und mit Fachpersonal die (Miet-)Wohnung wechseln

Frau mit Umzugskartons

Wer in Deutschland zur Miete lebt, der weiß, dass es für ihn nur eine wichtige Frist gibt: Die gesetzlich festgelegte Kündigungsfrist von drei Monaten. In deren Rahmen ist es vollkommen gleich, an welchem Tag die Wohnung gekündigt, geräumt oder neu bezogen wird.

Für die Schweiz dagegen gibt es zwei dramatisch anderslautende Klischees:

  1. Mieter dürfen nur zu wenigen bestimmten Terminen pro Jahr die Wohnung wechseln.
  2. Es muss immer ein professioneller Umzugsservice genutzt werden.

Die Antwort mag Sie vielleicht verblüffen, aber ganz falsch ist dieses Klischee nicht. Zwar gibt es in der Schweiz keine Vorschrift, die besagt, man müsse einen Umzugsservice nutzen – wenngleich dies für alle Arten von Umzügen, darunter besonders solche grenzüberschreitende Natur, dringend angeraten ist. Wohl aber gibt es in den meisten Schweizer Kantonen tatsächlich offizielle „Zügeltermine“ Ende März und September. Nur zu diesen Terminen können Mietverträge gekündigt werden. Sie sind übrigens dort ein ganz ähnlicher Zankapfel wie bei uns der ständige Streit ums Tempolimit – weil zu den wenigen Tagen Handwerker kaum zu bekommen sind.

3. In der Schweiz verdient man mehr und hat auch am Monatsende mehr übrig

Schweizer Franken

Der Schweizer Franken ist seit gut einem halben Jahrzehnt nicht mehr per Mindestkurs an den Euro gekoppelt. Zudem glauben viele, das schweizerische Gehaltsniveau sei dem deutschen in praktisch jedem Beruf deutlich überlegen – und der schweizerische Staat würde sich ebenso wie die dortigen Geschäfte deutlich stärker zurückhalten und weniger fordern. Tatsächlich denken so viele Deutsche so, dass das liebe Geld einer der wichtigsten Gründe ist, warum viele nach der Schweiz auswandern.

Doch schauen wir uns diese ganze Reihe von Klischees einmal genauer an:

  • Was die Gehälter anbelangt, stimmt das Klischee. Aktuell (April 2022) stehen Euro und Franken praktisch 1:1, das vereinfacht den Vergleich. Schweizer Vollzeitbeschäftigte verdienen monatlich im Schnitt ungefähr 6.550 Franken (brutto), Deutsche dagegen lediglich 4.100 Euro.
  • In Sachen Lebenshaltungskosten stimmt das Klischee keineswegs. Passend zum höheren Gehaltsniveau ist in der Schweiz praktisch alles merklich bis dramatisch teurer als in Deutschland. Hierzulande beispielsweise kommen Singles auf monatliche private Konsumausgaben von zirka 700 Euro, in der Schweiz sind es (umgerechnet) fast 1.800 Euro.
  • Bei den Steuern ist das Verhältnis wieder anders. Der Spitzensteuersatz liegt in der Schweiz auf Bundesebene bei lediglich 11,5 Prozent (Deutschland 42). Allerdings erheben Bund, Kantone und Gemeinden Einkommenssteuern, man zahlt also dreifach. Dafür jedoch versuchen viele Kantone und Gemeinden, sich gegenseitig bei den Steuersätzen zu unterbieten, um attraktiver zu sein.

Im Klartext: Als Neu-Schweizerin würden Sie in der Tat mehr bekommen, müssten aber auch für das Leben insgesamt mehr ausgeben, wenngleich die Steuerbelastung geringer wäre. Vergleichen wir deshalb besser die Sparraten am Ende des Monats: Da haben Schweizer Singles meist noch um die 1.200 Euro auf dem Konto, während Deutsche nur noch etwa 650 besitzen.

Übrigens: Aus all diesen Gründen fahren nicht eben wenige grenznah lebende Schweizer gerne zum Einkaufen ins Ausland.

4. In der Schweiz kommt man mit normalem Deutsch problemlos durch

Dass Sie im Schweiz-Urlaub mit normalem (Hoch-) Deutsch problemlos alles erledigen können, ist eine unbestrittene Tatsache – schließlich gehört das Land eben zum deutschsprachigen Raum, ohne Wenn und Aber.

Doch genügt dies auch, um dort zu leben und arbeiten zu können? Nun, realistisch betrachtet müssen Sie hierbei sozusagen vier Seiten derselben Medaille betrachten:

  • Offiziell ist die Schweiz ein viersprachiges Land. Und selbst jenseits der ganz klar deutschsprachigen Kantone sprechen viele Einwohner die Sprache. Jedoch: Insgesamt sprechen nur rund zwei Drittel aller Einwohner und drei Viertel aller Schweizer Staatsbürger Deutsch. In Teilen der Ost- und Südschweiz beispielsweise kommen Sie selbst im Urlaub nur mit Französisch und Italienisch weiter – vom Rätoromanischen ganz zu schweigen.
  • Deutsch ist nicht gleich Deutsch. In der Schweiz haben Sie auf der einen Seite das Schweizerdeutsch als eine Sammlung von alemannischen Dialekten. Allerdings sind diese wiederum ein Teil des Schweizer Hochdeutschs – das sich durch zahlreiche Vokabeln (sogenannte Helvetismen) und teils sogar Grammatikregeln stark vom „deutschen Hochdeutsch“ unterscheidet.
  • Im Berufsalltag sind die meisten deutschsprachigen Schweizer durch Tourismus und Globalisierung längst damit vertraut, deutsches Hochdeutsch in Aussprache und Wortschatz zu akzeptieren.

Der Knackpunkt ist jedoch: Es gibt durchaus Schweizer, die eine derartige „sprachliche Einwanderung“ kritisch sehen. Das heißt, wenn Sie selbst als Schweizer Einwohnerin weiterhin auf Ihrem erlernten Deutsch beharren, könnten Sie durchaus bei manchen Personen anecken. Geben Sie sich also Mühe, wenigstens die wichtigsten Helvetismen rasch zu erlernen.

Zusammengefasst: Vorsicht vor Klischees

Schweizer Berge

Es stimmt sicherlich nicht, dass in jedem Klischee ein Fünkchen Wahrheit steckt – auch nicht, was die Schweiz anbelangt. Doch gerade, wenn Sie mit dem Gedanken spielen, sich bei unseren südlichen Nachbarn niederzulassen, sollten Sie jedes – liebenswerte und weniger nette – Klischee über die Schweiz und ihre Einwohner gründlich überprüfen, bevor Sie sich zu einem Auswandern dorthin entschließen.

Denn obwohl zwischen der Schweiz und Deutschland in vielerlei Hinsicht oftmals kein Blatt mehr passt, handelt es sich trotzdem um zwei grundverschiedene Länder – manchmal gerade dort, wo zu blauäugig denkende Einwohner beider Staaten es am wenigsten vermuten.

Quellen: Bilder: unsplash.com © Tim TradClaudio Schwarz, Janosch Diggelmann, Depositphotos/IgorVetushko, Text: red